Studium in Schweden - Teil 2

Beitrag veröffentlicht am: 3. Dezember 2004

Neue Fächer

Wer dachte, ich hätte bereits alle Unterschiede zum deutschen Studium ausführlich erläutert, den muss ich leider enttäuschen. Es gibt noch viele Aspekte, die ich beleuchten möchte. Ich vermute, es reicht sogar noch für einen dritten Teil. Der kommt dann aber sicher nicht mehr dieses Jahr.

Nun bin ich ja schon seit einigen Wochen in der neuen “Study Period”. Das bedeutet, dass ich neue Fächer habe. Diese “Study Period” geht bis Mitte Januar und über Weihnachten ist natürlich frei (und ich bin zurück in Deutschland).

Obwohl ich neben meinem (sinnlosen) Schwedischkurs noch 3 weitere Fächer belegt habe, ist dieser Abschnitt entspannter, was das Arbeitspensum pro Woche angeht. Der Grund ist einfach, die “Study Period” ist um 2 Wochen länger plus Weihnachtsferien. Da streckt sich das natürlich alles besser und die ganzen Belege fallen nicht in der gleichen Woche an.

Ich hab mich in diesmal für folgende Kurse entschieden:

  • Requirements Engineering (Pflichtkurs)
  • Software Quality Management
  • Software Product-lines

In Requirements Engineering behandeln wir Methoden und Techniken, wie man die Anforderungen an eine Software aus dem Kunden bzw. Endnutzer herausbekommen kann. In Software Quality Management geht es weniger um konkrete Techniken. Vielmehr steht der Prozessgedanke im Vordergrund, also wie kann man seinen Softwareentwicklungsprozess so gestalten und verbessern, dass am Ende eine qualitativ hochwertige Software raus kommt?! Dabei behandeln wir auch solche Ungeheuer wie CMMI und ISO 9000 bzw. TickIT. Im letzten Fach, Software Product-lines, geht es um Produktlinien in der Softwareentwicklung. In der Produktionsindustrie ist die Idee ja schon lange bekannt. Man hat ein Grundmodell und macht dann verschiedene Autos daraus für unterschiedliche Kundensegmente. So sind ja z. B. der Porsche Cayenne und der VW Touareg fast baugleich. Dieser Kurs ist etwas mehr technisch angehaucht, aber auch hier werden Managementaspekte beachtet.

Soviel also erst mal zu meinen aktuellen Kursen, schreiben wir jetzt mal lieber allgemein über das Studium.

Der Lehrkörper

Als ich hier an die BTH kam, war ich doch etwas überrascht, als plötzlich in einer Vorlesung ein 26-jähriger vor der Tafel stand. Dieser Jemand hat nicht mal einen Doktor, von einem Lehrstuhl (Professur) gar nicht zu reden. Das hat mich natürlich interessiert und ich hab mich mit ihm mal darüber unterhalten, wie das hier so läuft.

In Schweden wird in die undergraduate und graduate Ebene bei der Ausbildung an den Hochschulen unterschieden. Man ist ein Undergraduate, wenn man noch keinen Abschluss hat - also bis zum Bachelor Abschluss nach 3 Jahren. Danach tritt man in die Masterausbildung ein und ist ein Graduate. Während die Orientierung auf der undergraduate Ebene praktisch ist, wird nach dem Bachelor auf wissenschaftliche Ausbildung fokussiert. Dazu gehört auch, dass es keine schriftlichen Prüfungen am Ende des Kurses mehr gibt. Hat man seinen Master, kann man weiter studieren für einen Doktor (PhD). Eine Promotion dauert in Schweden prinzipiell 4 Jahre. Nach 2 Jahren erhält man die Lizenz (licentate), mit der man schon auf der undergraduate und graduate Ebene lehren darf. Nach weiteren 2 Jahren erhält man dann die Promotion, mit der man auf der graduate Ebene lehren darf. Auf der Ebene der Doktoranden sollen die Vorlesungen möglichst durch Professoren gegeben werden.

Besagter Jemand ist momentan ein PhD Student. Ein PhD Student muss prinzipiell 20% seiner Zeit für Lehrveranstaltungen bzw. andere Arbeiten für die Hochschule verwenden. Dadurch verlängert sich die Promotion insgesamt auf etwa 5 Jahre. Während der Promotion gibt es einige Pflichtkurse, wie z. B. Pädagogik und Forschungsmethoden.

Die Promotion besteht zunehmend in Schweden nicht mehr aus einer großen Schrift (Buch), dass am Ende der Promotion abgegeben werden muss. Es wird jetzt immer häufiger, dass der PhD Student während seiner Promotion etwa 4 bis 6 wissenschaftliche Artikel verfassen muss, die möglichst auch zu veröffentlichen sind. Diese Artikel werden am Ende nur noch zusammengefasst und zählen dann als Promotion.

Doch zurück zu den Lehrkräften. Bis jetzt hatte ich ca. 4 Veranstaltungen bei einem “echten” Professor. Also ich rede hier von 4 Vorlesungen und nicht 4 Kursen! Alle anderen Vorlesungen wurden entweder von einem PhD Student oder einem Lecturer abgehalten. Was ist nun also ein Lecturer? Man könnte es frei mit Hochschullehrer übersetzen. Die Aufgabe dieser Leute ist es, hauptsächlich Vorlesungen zu geben. Viele Hochschullehrer arbeiten nur Teilzeit an der Hochschule und sind ansonsten in der Industrie beschäftigt. Weiterhin müssen sie sich natürlich auch in der Selbstverwaltung der Hochschule beteiligen, also z. B. Auslandsbeauftragter oder Studiengangverantwortlicher.

Was ist nun der Vorteil dieses Systems? Ich sehe da mehrere:

  1. Es gibt hier nur relativ wenige Professoren. Deren Aufgabe ist es Forschungsgruppen zu leiten, für die Finanzierung zu sorgen und die Ausbildung zu koordinieren. Weiterhin ziehen sie den wissenschaftlichen Nachwuchs groß, wobei damit primär die PhD Studenten und die bereits promovierten Mitarbeiter gemeint sind. Das bedeutet, dass sich der Professor hier wesentlich mehr auf die Forschung konzentrieren kann.
  2. Der Einsatz von PhD Studenten und Hochschullehrern als Lehrkräfte dürfte sicher wesentlich kostengünstiger sein im Vergleich zu Deutschland, wo doch sehr viele Vorlesungen von Professoren gehalten werden. Um es mal deutlich zu machen, ich kann nicht nachvollziehen, warum in Deutschland die wertvolle Arbeitszeit eines Professors verschwendet wird, um Studenten C++ oder die Grundlagen der Betriebswirtschaftslehre beizubringen. Da schießt man bei uns mit Kanonen auf Spatzen!
  3. Spätestens nach 5 Jahren wird ein Kurs von einem anderen PhD Studenten übernommen. Auch die Hochschullehrer wechseln häufiger, da sie doch oft dem (finanziellen) Ruf der Wirtschaft nicht widerstehen können. Das hat zur Folge, dass nicht 15 Jahre lang die gleichen Vorlesungen unverändert gegeben werden. Die PhD Studenten sind natürlich in die wissenschaftlichen Forschungsprojekte des Instituts eingebunden und geben meist die Kurse ihres Spezialgebietes. Dadurch ist gesichert, dass immer aktuelle Kenntnisse an die Studenten vermittelt werden. Da die Hochschullehrer meist noch in der Industrie beschäftigt sind, haben sie den Bezug zur Praxis und wissen, wie die oftmals sehr abstrakten Denkansätze in der Realität eingesetzt werden - oder auch nicht.
  4. PhD Studenten werden frühzeitig “gezwungen” das Lehren zu üben. Es gibt eben z. B. Pädagogik als Pflichtfach und die Studenten müssen 20% ihrer Zeit meist für Lehre aufbringen. Das hat zur Folge, dass jeder geübt im Lehren ist. Natürlich gibt es auch hier Unterschiede zwischen den einzelnen Lehrkräften; manch einem liegt es mehr. Aber, die Unterschiede sind nicht so krass wie ich sie teilweise in Deutschland erleben musste.
  5. Ab der graduate Ebene (nach dem Bachelor) gibt es keine schriftlichen oder mündlichen Abschlussprüfungen in einem Fach. Das finde ich mehr als sinnvoll, da ich schon immer bezweifelt habe, ob solche Prüfungen überhaupt sinnvoll sind. Schauen wir der deutschen Realität ins Auge: Jeder fängt etwa 1 Woche vor der Prüfung an den Hefter oder die Folien auswendig zu lernen. Spätestens 2 Wochen nach der Prüfung hat man den größten Teil wieder vergessen. Wozu also dann überhaupt auswendig lernen, wenn man eh alles wieder so schnell vergisst?
  6. Ab der graduate Ebene wird primär das selbstständige Lernen gelehrt und nicht der Kursstoff. Dieser dient lediglich als Hilfsmittel um das Lernen zu lernen. Das klingt natürlich jetzt etwas kompliziert, soll es ja auch aus rhetorischen Gründen ;-) Natürlich wird Stoff vermittelt in jedem Kurs, aber es gibt kein vorgefertigtes Skript, das man auswendig lernen kann. Es werden lediglich zentrale Bücher für den Kurs benannt. Diese sind selbstständig zu studieren. Darüberhinaus muss man das Wissen durch aktuelle wissenschaftliche Artikel auf den momentanen Stand bringen, da Bücher ja meist etwas hinterherhinken. Oft wird auch der kritische Vergleich von Quellen verlangt. Damit man auch wirklich was tut, werden ständig schriftliche Erörterungen, Präsentationen oder Diskussionen verlangt. Die Idee dahinter ist, dass man sowieso während des Studiums nicht alles lernen kann, was man später mal braucht. Wichtiger ist deshalb die Fähigkeit, sich selbstständig neues Wissen aneignen zu können, falls man es z. B. für seine Arbeit braucht.
  7. In schwedischen Kursen gibt es prinzipiell nur 3 Endnoten: nicht bestanden (fail), bestanden (pass) und sehr gut bestanden (high pass). Soweit ich es herausgefunden habe, gab es vor einigen Jahren eine Reform, die dieses relativ schmale Bewertungsinstrument eingeführt hat. Die Idee dahinter ist, dass jeder für sich lernt und nicht für Zensuren. Auch gehört dazu, dass man eine Spaltung in gute und schlechte Studenten vermeiden möchte. Jeder soll sich nach seinen Fähigkeiten entwickeln.

Gut, ich denke das reicht erst mal an positiven Argumenten, bis hierhin wird ja eh keiner gelesen haben. Gegenargumente kann sich ja jeder selber ausdenken. Wahrscheinlich hab ich sowieso die Hälfte der Argumente vergessen, es bleibt also genügend Stoff für einen dritten Teil - irgendwann…